Andrea Thal, Kulturschaffende und Kuratorin der SPK 2023/24, im Gespräch mit Hans Rudolf Reust, ehemaliger Co-Studiengangsleiter des BA Fine Arts der Hochschule der Künste Bern HKB und ehemaliges Vorstandsmitglied der SPK.
Im Februar 2024 in Bern
Hans Rudolf Reust / HRR: Welcome Andrea hier in Bern. Ich weiss, es ist nicht Nostalgie, was dich hier hinführt, sondern die Sommerakademie Paul Klee. Bern ist ja immer ein guter Ort in der Grossstadt Schweiz, wo Dinge in Ruhe überlegt werden können. Kein Ort des Vertriebs, kein Ort des Verkaufs, sondern ein Ort, wo Dinge überlegt werden können, und das tust du mit den Residents der Sommerakademie für zwei Jahre. Ich bin gespannt, welches deine Konzeption war und natürlich auch, was deine Erfahrungen im ersten Jahr sind. Please!
Andrea Thal / AT: Danke, Hans Rudi. Du hast es schön umschrieben. Ich bin in Bern aufgewachsen und früh von hier weggegangen. Zwischenzeitlich, als du und Anselm die Fine Arts an der Hochschule der Künste Bern geleitet haben, habe ich auch hier unterrichtet. Die letzten neun Jahre war ich künstlerische Leiterin am Contemporary Image Collective - CIC in Kairo, wo ich auch lebe. Deshalb fühlt es sich tatsächlich an wie ein Zurückkommen, als Gelegenheit, wieder eine Verbindung zu Bern zu haben.
HRR: Kulturschock?
AT: (lachend) Ein bisschen manchmal… aber tatsächlich ist für mich bei der Sommerakademie nicht nur Bern als Ort des stillen Arbeitens wichtig, sondern auch das Format. Ich habe mich sehr gefreut, als ich im Herbst 2022 gefragt wurde, mich mit einem Konzept für die kuratorische Leitung des Sommerakademie-Zyklus 2023/24 zu bewerben. Das Format der Sommerakademie hat mich sehr angesprochen, weil mit einer kleinen Gruppe von Residents sehr frei zusammengearbeitet werden kann. Wir haben jetzt acht Residents im Programm und können über zwei Jahr hinweg an einem Thema dranbleiben. Wir sind nicht immer zusammen, in Präsenz eigentlich sehr wenig: Wir hatten acht Tage im letzten August und nun wieder acht Tage im August 2024. Und wir haben schon im Juni 2023, vor dem ersten Treffen in Bern, angefangen, uns online zu treffen. Als wir einander in Bern dann zum ersten Mal gesehen haben, kannten wir uns schon ein bisschen von den virtuellen Treffen und haben schon über die Inhalte gesprochen. Das hat sich als sehr positiv erwiesen, ich habe das Gefühl durch die Auswahl der Personen und die Art, wie wir uns kennengelernt haben, war schon am ersten Tag eine Verbindung da.
HRR: Verstehe ich richtig, dass du nicht einfach eine inhaltliche Ausrichtung vorgegeben hast? Ihr habt auch sie schon gemeinsam entwickelt habt?
AT: Ich bin ähnlich vorgegangen, wie ich oft arbeite. Wenn wir in Kairo an einem Thema arbeiten, versuchen wir gemeinsam eine gewisse Setzung zu machen, die aber noch sehr offen ist und davon ausgeht, dass die Beteiligten sich einbringen und den gemeinsamen Prozess in eine Richtung steuern und mit zusätzlichen Inhalten füllen können. Ich habe den Call geschrieben für die Sommerakademie und darin eine thematische Auseinandersetzung definiert und den Titel «Finding our Feet» gewählt. Ich habe die Ausschreibung aus der Erfahrung der ökonomischen, sozialen und politischen Situation in Ägypten geschrieben, durch die Arbeit aus und in der Krise und der Instabilität, die für mich in den letzten neun Jahren zum Alltag wurden. Politische, soziale, ökonomische, aber auch persönliche Ereignisse werden dabei Teil der Arbeit. Ich habe schon bei Les Complices* in Zürich so gearbeitet aber in Ägypten hat das eine ganz andere Brisanz. Zum Beispiel ist Repression ein Thema und auch die ökonomische Situation können wir uns im schweizerischen Kontext schwer vorstellen. 2016 hatten wir eine grosse Finanzkrise, in der das ägyptische Pfund die Hälfte an Wert verloren hat und das hat sich im vergangenen Jahr noch einmal wiederholt. Im Moment ist sozusagen rund um Ägypten herum Krieg, das ist sehr präsent. Zum Beispiel gab es immer eine grosse sudanesische Community in Ägypten, aber seit dem Ausbruch des Krieges im Sudan sind viel mehr Menschen aus dem Sudan nach Ägypten gekommen, untern anderem sind auch sehr viele Kulturschaffende aus Khartoum nach Kairo geflohen. Seit über einem Jahr widmen wir einen grossen Teil unseres Programms in Kairo der Zusammenarbeit mit Kulturschaffenden, die aus Khartoum nach Kairo gekommen sind. All diese Dinge haben einen Einfluss auf meinen persönlichen Alltag und auf die Personen, mit denen ich arbeite. Ereignisse in den Familien, im persönlichen Leben von Menschen werden so dringlich, dass sie Teil des Arbeitsalltags werden. All diese Fragen sind im vergangenen Jahr noch viel dringlicher geworden.
Mir war immer klar, dass sich das persönliche Leben und die künstlerische Praxis nicht trennen lassen, ich habe auch in der Schweiz so gearbeitet. In den neun Jahren in Kairo wurde alles auf eine ganz andere Weise körperlich, es geht also viel näher und wird dringlicher und natürlich auch prekärer. Wir kennen den Begriff «embodiment»/«Verkörperung»: das Erlebte sinkt anders in den Körper ein. Was bedeutet die Erfahrung einer so starken Devaluation der Währung in deinem Alltag? Welches Essen und Transportmittel können sich die Menschen noch leisten? Was bedeutet es, wenn ein Familienmitglied einen Verkehrsunfall hat und es keine Krankenversicherung gibt? Wie können wir in diesen Situationen in einer Organisation arbeiten, welche anderen Formen des Zusammenarbeitens braucht es? An eine Organisation werden andere und ständig neue Anforderungen gestellt und das manifestiert sich auch in körperlichen und psychischen Zuständen.
HRR: Du schilderst das sehr eindrucksvoll: Kunst findet nicht in einem zwanglosen und echolosen Raum statt. Das Prekariat bestimmt schliesslich auch die Zeit, die für verschiedene Dinge zur Verfügung stehen.
AT: Dies hat viel mit dem Thema der Sommerakademie zu tun: «Finding our Feet». Wo stehen wir? Das hat mit den Wurzeln unserer Praxis zu tun, aber auch mit der Frage, wie wir uns situieren und von wo aus wir agieren. Wie können wir auf dem Grund, auf dem wir stehen, ein bisschen Stabilität gewinnen? Wie können wir gemeinsam versuchen, mit den unterschiedlichen Auswirkungen der Krisen umzugehen? In einer solchen Situation zu arbeiten, führt automatisch dazu, dass wir den Fragen, wie es uns geht und wie wir aufeinander achtgeben, einen viel grösseren Raum einräumen wollen und müssen.
Ich denke, solche Fragen sind auch in der Schweiz relevant. Zwei Personen der Sommerakademie leben ja in der Schweiz. Für mich ist sehr wichtig zu verstehen, wie sich diese Fragen in unterschiedlichen geographischen Kontexten äussern und was es für die Personen bedeutet, die dort leben und arbeiten.
HRR: Interessant, dass du darauf hinweist. Es hat ja in der Sommerakademie eine Abkehr vom globalen Kunstmarkt gegeben. Die ersten zehn Jahre der Sommerakademie waren grosszügig finanziert und stark auf die internationale Kunstszene ausgerichtet, mit vielen Frequent Flyers. Die zweite Phase fand in der Reflexionsecke statt, geprägt von artistic research, von dem, was in den Kunsthochschulen praktiziert wird, vor allem in der westlichen Akademieatmosphäre in Europa und den USA. Du vertrittst nun stärker den global South, auf jeden Fall eine andere Blickrichtung, wie sie auch documenta fifteen vertreten hat.
AT: Vielleicht erzähle ich aus einer persönlichen Perspektive: Für mich ist es wichtig und auch sehr schön, an den von Dora Garcia kuratierten Zyklus anzuknüpfen. Ihre Zeit bedeutet für mich eine Art Scharnier. Es gab sehr interessante Überlegungen, Besuche, Aktivitäten und ein sehr schönes Papier, das sie an diejenigen, die nachkommen, weitergeleitet haben. Sie haben sich mit trans* und feministischen Praxen beschäftigt. Das, was wir jetzt machen, hat also irgendwie schon im Zyklus davor angefangen.
HRR: Haben deine aktuelle Tätigkeit in Kairo und die Erfahrung mit documenta auch einen Perspektivenwechsel im Blick auf die Sommerakademie bewirkt?
AT: Ich bin Schweizerin und ich kenne den Kontext hier gut, aber ich bin in den vergangenen neun Jahren sehr stark im Kontext von Nordafrika verortet und nicht viel gereist, oder wenn, dann in der Region und durch unser Kollektiv ARAC – Another Roadmap for Art Education African Cluster. Ich war mit Arbeitsgruppen in verschiedenen Städten auf dem afrikanischen Kontinent. Das ist auch die Verbindung zur documenta fifteen, weil ARAC eine der eingeladenen Gruppen war. Die Erfahrung von «Lumbung» und der Art und Weise, wie Ruangrupa die Lumbung-Struktur aufgebaut, oder besser: zur Verfügung gestellt haben, ist sicher eine der Inspirationen, zum Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass wir uns alle schon vor dem ersten Zusammenkommen einige Male online treffen.
HRR: Ist es richtig, dass «education» eine grosse Rolle spielt? Hier im Westen bildet die Vermittlung ein separates Feld, z.B. die «Museumspädagogik», und hat ihre eigene Funktion innerhalb des Betriebs. Sie wird jetzt sogar von den globalen Galeriekonzernen als besondere Dienstleistung in die Angebotspalette übernommen, um «all in one» zu kontrollieren, von der Produktion über den Verkauf bis hin zur Ausstellung und deren Vermittlung in Massenmedien und Didaktik. Aber so ist «art education» bei dir ja wohl nicht gemeint? Magst du ein paar Worte dazu sagen, was ihr in Kairo darunter versteht? Ihr bietet z.B. auch printing workshops an, habt eine Infrastruktur, die ganz nahe bei den sozialen Bedürfnissen liegt.
AT: Wenn wir über art education und kuratorische Praxis reden, ist mir ganz wichtig, dass wir noch einen anderen Begriff dazu nehmen: «Sozialarbeit». Davon haben wir schon vor über zehn Jahren bei Les Complices* gesprochen. Ich empfand es schon damals als störend, wie diese Felder unterschiedlich gewertet werden. Es gibt im Kunstkontext eine klare Wertung für die künstlerische und kuratorische Praxis. Von Seiten der Geldgeber wurde über bestimmte Arbeitsweisen oder Projekte gesagt, hier geht es doch um Sozialarbeit und nicht um Kunst. Auch die Bildungsarbeit wurde oft nicht auf der gleichen Ebene gesehen. Wenn wir uns aber zum Beispiel anschauen, welche Rolle in der kritischen Bildung die Arbeit mit Menschen oder mit Gemeinschaften spielt, dann finden wir da oft radikalere und interessantere Herangehensweisen als in der zeitgenössischen Kunst. Die zeitgenössische Kunst eignet sich mitunter Teile davon an, leider manchmal nur auf einer Repräsentationsebene und auch nicht unter Einbeziehung der Personen, die diese Arbeitsweisen eigentlich schon lange machen und sich damit besser auskennen. Das ändert sich langsam, und documenta fifteen ist ein Beispiel dafür.
Wenn wir also Bildung und damit auch art education ernster nehmen, dann hat sie auch einen ganz anderen Platz innerhalb des Museums verdient - der dann auch nicht mehr nur das ist, was du beschreibst. Dazu haben auch in der Schweiz viele Personen gearbeitet, am früher von Carmen Mörsch geleiteten Institute for Art Education der ZHdK wo auch Nora Landkammer und viele andere gearbeitet haben und wichtige Forschungsprojekte entstanden, zum Beispiel. Aus diesem Kontext ist auch Another Roadmap School entstanden.
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Andrea Thal in der Ausstellung zu Finding our Feet in der Cabane B*, August 2024. Foto: Olivia Abächerli.
Finding our Feet - on methodologies of resilience
Opening Cabane B*: Thursday 8 August 2024, 7pm
Opening Grand Palais: Friday 9 August 2024, 7pm
Collective event / discussion at Cabane B*: Thursday 15 August 2024, 6:30pm
Finding our Feet - on methodologies of resilience is a public programme of exhibitions, listening sessions, performances, small workshops and group discussions by and with the residents of the 2023/24 cycle of Sommerakademie Paul Klee. Around the second and final meeting of the programme in Bern the group will share their personal resilience practices with the audience.
The exhibitions and public programme will include contributions by Shima Asa, Alizé Rose-May Monod, Andrea Palášti, Aryakrishnan Ramakrishnan, Halim Ramses, Tali Serruya Gorzalczany, Cheshmak Shahsiah, Kay Zhang, Andrea Thal as well as related collections of materials and texts.
Please save the dates and look out for our upcoming posts. We will communicate further details about the programme in the coming weeks and are looking forward to seeing you in August in Bern.
The Sommerakademie Paul Klee 2023 will take place in Bern 12–19 August 2023!
We would like to invite you to our public closing event on Saturday, 19 August 2023 at 18:00 in the public park behind Kunsthalle Bern (Helvetiaplatz 1, 3005 Bern). Please join us to hear about our week, talk, eat, drink and dance with us!
We are excited to announce our eight new Residents 2023/24 that we selected from over 260 applications from all over the world:
Shima Asa
Alizé Rose-May Monod
Andrea Palášti
Aryakrishnan Ramakrishnan
Halim Ramses
Tali Serruya Gorzalczany
Cheshmak Shahsiah
Kay Zhang
Please click here to read their bios.
We are looking for eight new Residents 2023/24!
Please click here to read our call for applications. The deadline is 15 March 2023, 7 AM CET.
We are looking forward to your application!
The Sommerakademie Paul Klee (SPK) proudly announces the appointment of Andrea Thal as the new curator of the Sommerakademie’s two-year cycle 2023/24.
Andrea Thal brings to the SPK extensive experience of curating, teaching and publishing, in which she combines an international perspective with the local context. Her engagement with social and political issues is frequently situated within a collaborative practice. From 2007 until 2014 she ran Les Complices, a self-organised space in Zurich. In 2011, she curated Chewing the Scenery, part of the Swiss participation in the 45th Venice Biennale. She has been an active member of Another Roadmap Africa Cluster (ARAC) since its foundation in 2015. Since 2014, Andrea Thal has been the artistic director of Contemporary Image Collective in Cairo, Egypt.
Up to eight residents are invited to join the SPK programme, curated by artist Andrea Thal, and beginning 12 August 2023, in Bern, Switzerland. Over the course of 2023 & 2024, the SPK features public lectures, closed-door seminars, and access to state-of-the-art infrastructure and technical support at the Bern Academy of the Arts (HKB)—but also teaching opportunities in the form of workshops at the HKB.
The new call for applications will be published early 2023 on this website.